Die 47 Ronin

Ein Land zwischen Tradition und Moderne: Japan. Wir möchten euch dieses faszinierende Land und seine Werte näherbringen und sie mit unseren vergleichen.

In der Nacht auf Dienstag, den 30. Januar 1703 (dem 14. Tag des 12. Monats nach dem alten japanischen Kalender – ein Datum, an das in Japan noch heute erinnert wird), stürmten die Männer aus Akō das Anwesen von Kira Yoshinaka und töteten den 62-jährigen Protokollchef. Nachdem sie ihm den Kopf abgeschlagen hatten, trugen sie ihn etwa 14 Kilometer weit durch die Straßen von Edo bis zum Grab ihres ehemaligen Herrn, Lord Asano, im Tempel Sengaku-ji, im südlichen Teil Edos. Nach einer Ehrbezeugung am Grab stellten sie sich freiwillig den Behörden.

Die Geschichte begann im Jahr 1701, als der Fürst von Akō, Asano Naganori, den Protokollchef Kira auf dem Gelände der Burg Edo angriff. Als Strafe wurde ihm befohlen, Seppuku (rituellen Selbstmord) zu begehen. Asanos Ländereien in Akō (heute Teil der Präfektur Hyōgo) wurden beschlagnahmt, und seine über 300 Samurai mussten sich auflösen. Zwei Jahre später schlossen sich 47 dieser Samurai erneut zusammen, um Rache an Kira zu nehmen – sie enthaupteten ihn.

Übrigens befand sich zum Zeitpunkt des ursprünglichen Vorfalls, der zu Asanos Tod führte, keiner der späteren 47 Rōnin in Edo. Sie alle waren zu dieser Zeit in Akō, weit entfernt vom Geschehen.

Vieles, was über den Vorfall „bekannt“ ist, basiert auf dramatisierten Versionen, die rund 50 Jahre nach dem Ereignis für Bunraku-Puppentheater und Kabuki-Stücke geschrieben wurden. Viele Ungenauigkeiten aus diesen Erzählungen wurden später fälschlicherweise als historische Fakten übernommen. Die wahre Geschichte wurde durch die populäre Version größtenteils überdeckt.

Lord Kira war keineswegs der Bösewicht, als der er häufig dargestellt wird. Vielmehr galt er als weiser und fähiger Verwalter seines Lehens sowie als äußerst zuverlässiger Vasall des Shoguns. Er handelte häufig im Auftrag des Shoguns als Gesandter am kaiserlichen Hof in Kyōto. In Kira-chō, in der heutigen Präfektur Aichi, wird er bis heute von den Menschen als ehrenhafter Mann verehrt. Die Behauptungen, Kira habe Lord Asano beleidigt oder gar Bestechungsgelder erwartet, sind unbegründet. Im Gegenteil: Wäre bei den Zeremonien, an denen Asano teilnehmen sollte, etwas schiefgegangen, hätte das auch Kira in ein schlechtes Licht gerückt. Ein Mann von Kiras Rang hätte keine Bestechung erwartet – Pflichtbewusstsein stand für ihn an erster Stelle. Übrigens war Kiras Vorname nicht Yoshinaka, sondern Yoshihisa.

Die Männer aus Akō rächten sich an Kira, ohne die wahren Hintergründe für Asanos Handeln zu kennen. Wie bereits erwähnt, waren sie weder beim Angriff Asanos noch bei dessen Seppuku zugegen. Es ist bekannt, dass Asano als psychisch labil galt und zu plötzlichen Wutausbrüchen neigte. Berichten zufolge tötete er sogar einige seiner eigenen Gefolgsleute aus banalen Gründen.

Zum Zeitpunkt des Angriffs auf Kira hatten sich Asano und Kira kurz in den Fluren der Burg Edo unterhalten und sich dann getrennt. Asano kehrte wütend in sein Quartier zurück, verließ es jedoch erneut, um gezielt nach Kira zu suchen. Der Angriff war also nicht spontan.

Entgegen der populären Darstellung schneite es in der Nacht des Angriffs nicht. An der Stelle, an der Kiras Residenz in Tokio stand und wo der Angriff der Rōnin stattfand, befindet sich heute ein kleiner Schrein, der den Opfern des Vorfalls gewidmet ist.

Obwohl sich die populäre Erzählung in mancher Hinsicht mit der Wahrheit deckt und in anderen Aspekten stark abweicht, bleibt es eine Geschichte über Mut – und eine eindrucksvolle Ode an den Weg der Samurai, insbesondere in Bezug auf Loyalität und Pflichterfüllung.